Weder Home noch Office – Orte der Arbeit 3/3

Alles anders
Bevor ich mich in diesem Blog dem Thema Coworking widme, muss ich gezwungener Maßen eine Aktualisierung der Betrachtung von erstem (zu Hause) und zweitem (Büro) Ort einschieben. Zu viel hat sich in der Zeit von April 2020 bis jetzt August 2021 getan, was unser aller Sicht auf das Thema Arbeitsorte nachhaltig beeinflusst hat:
Verlängerter Küchentisch (1. Ort – home)
„Es ist der Wahnsinn – die rufen uns alle an und wollen Wohnungen mit einem Zimmer mehr haben“. Mir gegenüber sitzt Irene, Chefin einer Wohnungsbaugesellschaft und klagt Ihr Leid über den sprunghaft steigenden Bedarf an Wohnraum in Leipzig.
Da haben Menschen während der Pandemie gelernt, dass sie sich – wenn sie nicht alleinstehend sind – den Arbeitsplatz in den eigenen vier Wänden sauer erkämpfen müssen. Lebenspartner, die in Unterwäsche durchs Hintergrundbild des Teams-Meetings huschen oder kleine Kinder, die das Yoghurt jetzt und nicht erst gleich haben wollen.
Wie sagte Watzlawick so schön: wer eine Bohrmaschine kauft, braucht nicht das Gerät in sich – eigentlich will er nur das Loch, ein schön rundes Loch.
Mit all den größeren Wohnungen, die Irene nicht herzaubern kann, verhält es sich ähnlich. Da wollen Menschen doch eigentlich gar nicht umziehen und mehr Miete zahlen. Eigentlich geht es um die Tür, die an dem gewünschten Zimmer dran hängt: die könnte man zuknallen, um endlich in Ruhe arbeiten zu können.
Blöd nur, dass durch diesen unscheinbaren Tür-Wunsch der komplette Wohnungsmarkt explodiert.
Weggegangen, Platz vergangen (2. Ort – office)
Wissen Sie, was Tumbleweed ist? Das sind diese kugelrunden, vertrockneten Büsche, die vom heulenden Wind vorangetrieben durchs Kinobild der Italowestern der 60er und 70er Jahre rollten – ein malerisches Symbol für Geisterstädte.
Weniger malerisch sind während der Pandemie weltweit die Zimmerpflanzen in verlassenen Geisterbüros vertrocknet und die Staubflusen zu monsterhaften Dimensionen angewachsen.
Kein Wunder also, dass Firmen nicht mehr weiter für leere Büros Miete bezahlen wollen und ihre Mitarbeiter bitten, sich die Schreibtische zukünftig mit den Kollegen zu teilen. Der Aufschrei in den Belegschaften ist riesig: Kündigungsdrohungen, Krankmeldungen, Arbeitsverweigerung.
„Nehmt uns unsere Schreibtische und wir gehen!“ – Revolution!
Nach uns die Sintflut
Im Mittel wollen 70 % der Arbeitnehmer an 2-3 Tage Homeoffice machen. Spannend ist, das gleichzeitig nur ca. 20 % der Befragten bereit sind, auf den eigenen Arbeitsplatz zu verzichten.
Es ist physikalisch unmöglich, gleichzeitig auf zwei Stühlen an verschiedenen Orten zu sitzen. Der Wunsch nach größeren Wohnung unter Ausschluss der Akzeptanz von Arbeitsplatzteilung ist, wenn man Ihn zu Ende denkt, ökologischer Irrsinn.
Wenn wir jetzt alle die mobile-Office-Freiheit genießen, aber keine Einschränkungen akzeptieren wolle, schubsen wir der Klimakrisen nochmal so richtig schön an in Richtung wärmer, nässer und stürmischer.
Ernsthaft?? Zeit umzudenken!
Work is not a place anymore
Die Suche nach dem dritten Arbeitsort – weder im Büro, noch zu Hause – beginnt in Deutschland offiziell mit dem Gastronomen Ansgar Oberholz, der sein WLAN für die Gäste öffnet, eine Kaffeeflatrate anbietet und damit 2005 in Berlin das erste Coworking Café erfindet. 2009 entsteht dann, ebenfalls in Berlin mit dem betahaus das erste Coworking Space.
Zunehmend mehr junge Talente, Freelancer und digitale Nomaden kehren den klassischen Unternehmen und dem, ihre Freiheit einschränkenden 9 to 5 Alltag den Rücken und wenden sich mit zunehmender Digitalisierung den Orten zu, in denen im Rahmen von Communitys ein offener, kollaborativer Austausch gepflegt wird und man sich die Kosten von Fläche, Infrastruktur miteinander teilt. Was den Gedanken des Coworking so reizvoll macht, ist, dass die unendliche Vielfalt dieser Orte, an denen ich arbeiten könnte:
Wo es was zu Essen gibt: Kneipe, Café, Restaurant,
Wo ich mobil bin: Zug, im Camper, Segelboot
Wo ich nicht gehört werde: Stadt- oder Unibibliothek,
Wo Natur ist: Park, eigener Garten, Datsche, Schrebergarten, Balkon, Dachterrasse
Wo ich Inspiration habe: Coworking Space, bei Freunden, am Marktplatz
Wo ich Neues entdecken kann: schwäbische Alb oder eben Panama
Lösung für die Stadt: Coworking im Kietz
„Meine Freundin hat wirklich keine Ahnung von dem, was ich mache – aber wenn ich Ihr mein Problem erzähle, komme ich plötzlich auf Lösungen, die ich im Büro nie hätte.“ Um nicht alleine in Ihrer Wohnung zu versauern, hat sich Luise in der Pandemie immer mal mit Ihrer Freundin zum Homeofficetag getroffen und den eigenen Küchentisch ins Work-Café verwandelt.
Walzt man die Idee auf ganze Städte aus, wird’s interessant: Da arbeiten in einem Stadtteil z.B. 100 Menschen an wechselnden Wochentagen in Ihrer Wohnungen alleine und einsam vor sich hin. Was, wenn man die alle im leerstehenden Ladengeschäft, dem tagsüber verwaisten Restaurant oder wo auch immer als crossfunktionale Bürogemeinschaft zusammenbringt? Mit genug Leuten könnte man sich sogar auch in einen anständigen Kopierer, das Mittagessen oder den kleinen Telefonkonferenzraum hineinteilen. Mit dem Konzept würde man den oben beschrieben Ich-will-meine-Tür-zuknallen-können-Druck vom Wohnungsmarkt nehmen ohne postpandemisch noch mehr CO2 zu verbraten.
Lösung fürs Land: Dorfkneipe 2.0
Unsere Vororte, Dörfer, kleinen Gemeinden sind in den letzten Jahrzehnten infrastrukturell unter die Räder gekommen. Da ziehen Menschen auf der Flucht vor steigenden Mieten aufs Land und kaufen ihr Zeugs dann überall, nur nicht beim Dorfbäcker oder -fleischer. Damit stirbt alles, was ein funktionierendes Dorf lebenswert macht, wenn es nicht schon vorher tot war. (.. und das Amazon-Fass mach ich hier bewußt nicht auch noch auf)
Das, liebe Leute, rächt sich genau jetzt, Mittags im Homeoffice auf dem Land bekommt man im Umkreis von 15-20 km nun nicht mal mehr ein Brötchen.
Tolles Arbeitsumfeld? Tumbleweed!
Umbrüche finden zuerst im Kopf statt
Lasst uns mal kurz träumen. (Utopie nennt sich das, was jetzt kommt) Egal ob auf dem Land oder im nicht ganz so hippen Stadtteil um die Ecke. Was, wenn der Bäckerladen zur digitalen Kreativ-Werkstatt, die Streuobstwiese zur Stellfläche für mobile Arbeitsräume, das Gemeindehaus wieder zum Treffpunkt würden? Stillgelegte Bahnhöfe, verstaubte Dorfkneipen, leere Kirchen, verlassene Werkstätten. Orte gäbe es genug. Wie vielen Kietzen und Käffern könnte man wieder das Leben einhauchen, das wir uns doch eigentlich sehnlichst wünschen? Wir müssten uns nur mit unseren Nachbarn zum Arbeiten zusammen tun.
Und der tolle Nebeneffekt: wenn wir es uns dann in unserem heimische Umfeld so richtig schön gemacht haben und auch der Bäcker wieder auf hat – wer braucht da denn noch ein eigenes Auto um 2x in der Woche ins Büro zu fahren? Da könnten wir die ungenutzten Parkplätze auch noch für breitere Fahrradwege nutzen. Aber das ist ein anderer Traum.
Literatur:
https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/Coworking_im_laendlichen_Raum.pdf
08.08.2021 in architecture