Ein wandfreies Herzrasen – Open Office macht meschugge

Ich arbeite selbst im Open Office, schon seit mehr als 17 Jahren. Damals durfte man noch Großraumbüro dazu sagen. Ich würde um nichts in der Welt wieder in eine Zelle gehen wollen, hier bekomme ich alles mit – aber eigentlich hasse ich es. Ich kann mich hier nie wirklich konzentrieren.
„Großräumliche Bürostrukturen“ sind in vielen Branchen unverzichtbar, da Menschen ohne Barrieren besser miteinander kommunizieren. Sie treiben aber auch ganze Belegschaften in den Wahnsinn, denn sie bedeuten eine hohe Geräuschkulisse, visuelle Unruhe und soziale Kontrolle ohne Rückzugsort. Wer ist nun Schuld an der Misere? Gibt es Lösungsansätze?
Die überforderten Architekten
Fangen wir mit den Architekten an: Die sind an allem Schuld, denn die haben den Schlamassel ja verzapft. In Bezug auf Open Office sind sie wie schlechte Liebhaber: Sie wollen es zwar immer machen, bekommen das mit dem Höhepunkt aber einfach nicht hin. Die Nutzer bleiben trotz hoher Investitionskosten oft unbefriedigt und frustriert zurück. „Ja – aber so stand es doch in der Aufgabenstellung“, wird der Architekt sagen. „Ich habe vorher viel gezeichnet, die Wünsche der Firmenleitung befolgt. Mit Nutzern wurde wenig gesprochen. War nicht gewollt.“ Planungsprozesse finden heute immer noch weitgehend unter Ausschluss des Nutzers statt – Architekturwettbewerbe sowieso. Ohne intensives Vorspiel, ohne sich für die Vorlieben des Nutzers zu interessieren KANN KEIN befriedigendes Arbeitsumfeld entstehen. Kurz: Ohne Partizipation wird’s Mist.
Der alltägliche Lagerkoller
Legehennen bekommen – wie pervers – die Schnäbel gestutzt, um sich in der zusammen gepferchten Bodenhaltung nicht gegenseitig tot zu hacken. Lemminge rennen, wenn´s zu eng wird, plötzlich alle los, auch in Abgründe hinein. Und wir Menschen?
Wenn man sich Bürogebäude heute so anschaut, hat man das Gefühl, „Flächeneinsparung“ sei ein Wundermittel. Gib Deinen Mitarbeitern so wenig Platz wie möglich und Du sparst Unmengen an Geld ein, sagen sich die Controller. Und sind damit auch Schuld.
Riesige Flächeneinsparung ist aber schlicht ein riesiger Denkfehler: Gebäudekosten machen 10%, Personalkosten hingegen 80% der Unternehmenskosten aus. Wer am Gebäude spart und damit Unzufriedenheit und Krankenstände seiner Mitarbeiter in die Höhe treibt, ist einer Milchmädchenrechnung auf den Leim gegangen. Die Ermittlung eines nachhaltigen Flächenbedarfs hat nämlich mehr mit Soziologie als mit Mathematik zu tun.
Ihr geht mir alle so aufs Schwein!!!
Zivilisation bedeutet für Kant, dass sich Menschen gegenseitig zu einem „artigen Miteinander“ erziehen. In den meisten offenen Büros aber werden Opfer zu Tätern: Ich kann mich hier eh nicht konzentrieren, also lasse ich jegliches Feingefühl sausen und spreche jeden jederzeit an. Am Ende sind alle genervt und blenden das Gequatsche der Kollegen mit Kopfhörern aus.
Eigentlich sollte gegenseitige Achtsamkeit untereinander eine eher größere Rolle spielen, je weniger Wände im Büro stehen. Und wer sagt, dass Ruhezonen nur räumlich existieren können? Warum nicht zeitlich / kulturell? Wir alle sind auch mit Schuld, wenn ein Open Office nicht funktioniert.
Jason Fried – der Gründer von Basecamp und 37signals hat daher in seinem Unternehmen den stummen Donnerstag eingeführt [no-talk thursday]. Wie in der Bibliothek ist an diesem Tag Reden komplett verboten. Keine Meetings, keine Telefonate, keine Gespräche. Mit der Konsequenz, dass die Mitarbeiter an einem Tag mehr schaffen als sonst in der ganzen Woche.
Datsche statt Klatsche!
Das Open Office bedeutet für den einzelnen Mitarbeiter einen massiven Kontrollverlust über laut & leise, warm & kalt, hell & dunkel. Wer sein Arbeitsumfeld nicht mehr selbstbestimmt beeinflussen kann, nicht ungestört und ohne zu stören reden kann, empfindet Unannehmlichkeiten als doppelt schlimm und zieht sich zurück – wohin?
Die DDR – auch nicht gerade für die Selbstbestimmtheit ihrer Bürger bekannt – wurde als Nischengesellschaft bezeichnet. Weil sie im Betrieb, im öffentlichen Raum nicht frei reden konnten, zogen sich die Bürger in soziale Nischen zurück, wie z.B. auf in die Datsche am Stadtrand. In Familie und Freundeskreis wurde mehr und ausgelassener gelebt, geliebt und gefeiert als im Westen.
Wer also beides haben will; offene, kommunikative, lichtdurchflutete und blühende Bürolandschaften UND glückliche, zufriedene Mitarbeiter, der braucht räumliche und soziale Rückzugsräume: akustisch abgeschirmte Sofas, Thinktanks, Teeküche und Kantine.
Liebe Unternehmer, liebe Architekten – mehr Mut zur Nische!
Mit herzschonenden Grüßen
Euer Guido Rottkämper
17.03.2016 in architecture