Der frühe Vogel kann mich mal oder Kreativität ist unbeSTECHlich

Luise, unsere neue Architektin, stellte bereits im Bewerbungsgespräch klar: „Ich kann morgens nicht arbeiten – ich würde gern erst um 11 Uhr anfangen“. Statt Schnappatmung zu bekommen, lass ich sie machen. Warum denn auch nicht? Luise ist halt eine Eule.
Nun scheint abends im Büro deutlich länger das Licht und Luise legt so richtig los, wenn alle gegangen sind. Sie ist eine von immer mehr “Bs”, die sich nicht mehr unterdrücken lassen. In Dänemark hat Camille Kring die B-Society gegründet, die Lobbygruppen für notorische Langschläfer. Mit Erfolg: In Schulen und Universitäten gibt es bereits Spätaufsteherklassen.
Zeit wirds! Till Ronneburg, führender Forscher der Chronobiologie, fand schon 1999 das Gen, das den Tagesrhythmus von Eulen und Lerchen festgelegt. Er erforscht, welche gravierenden Folgen es für Produktivität und Wohlbefinden hat, wenn wir allein der Konvention zuliebe Eulen zwingen, außerhalb ihrer biologischen Komfortzone ihre Zeit auf Arbeit ab zusitzen.
Der Gedankenfluss ist frei
Wie bescheuert ist es überhaupt, Arbeit und Kreativität in Zeit messen zu wollen? Als ich zur Schule ging, galten die Schnellen noch als smart. Heute zählt der Fleiss des “wer am längsten sitzt” als Tugend. Auch im Büro.
Doch anstatt zu fragen, wann jemand kommt oder wie lange jemand arbeitet, sollten wir uns besser darum kümmern, dass die Menschen sich wohl fühlen! Nur dann bekommen sie die Chance, in ihrer Tätigkeit auf zu gehen, die Gesetze der Zeit aus zu hebeln und nahezu mühelos zu arbeiten. FLOW nennt der Glücksforscher Mihaly Csiksgentmihalyi diesen Zustand. Wüßten wir, wie man Ihn erreicht, müßten wir alle nur noch sechs Stunden täglich arbeiten und das Bruttosozialprodukt würde trotzdem durch die Decke gehen.
Denken im Rhythmus des Hochofens?
Wissen Sie, warum wir überhaupt 9 to 5 und damit genau acht Stunden am Tag arbeiten? Vor 200 Jahren wurde der Motor der industriellen Revolution von Hochöfen angeheizt. Die konnte man nicht einfach abends ausstellen und morgens mal eben wieder fix anheizen. Das hiess: Schichtarbeit. Der im Takt des Hochofens gedrittelte Tag gilt seit dem für alle.
In der 2. Hälfte des 19 Jahrhunderts ergab sich noch ein weiteres Problem. Viele in der neuen Masse von Arbeitern waren analphabetische Bauern, fleissig und stark – aber leider gewohnt, Pause zu machen, wenn sie erschöpft waren und zu schlafen, wenn die Sonne unterging. Diese Naturburschen brachten die reibungslosen Abläufe durcheinander. So wurden die Stechuhr erfunden, Vorarbeiter eingesetzt und Zuspätkommen mit Lohnabzug bestraft.
Der Vater ein Uhrmacher, die Mutter das Misstrauen
Die Stechuhr wurde für fast 200 Jahre zum unbestechlichen Herrschaftsmittel der Arbeitgeber. Erst 1998 wurde sie bei IBM offiziell abgeschafft und gegen elektronische Zeiterfassungssysteme ersetzt. Ausgedient hat sie deshalb noch lange nicht. Nur für 8% der Arbeitnehmer spiele Stunde und Minute heute gar keine Rolle mehr. Von einer Vertrauensarbeitszeit sind wir noch ganz weit weg.
Paradoxe Situation, oder? Von den Arbeitnehmern werden immer mehr Leistung, Engagement, Kreativität und Eigenständigkeit erwartet, die Strukturen jedoch, in denen sie das alles umsetzen sollen, haben sich seit 200 Jahren nicht verändert. Wir arbeiten immer noch nach derselben Philosophie, obwohl unsere Mitarbeiter keine analphabetischen Bauern mehr sind. Nach wie vor gibt es die Kontrolle des Managements und die Zeit als Maßstab für Kreativität und Produktivität.
Noch paradoxer – wo die Zeiterfassung abgeschafft wird, führen flexiblere Regelungen nicht zu mehr Freizeit, sondern schlicht zu mehr Arbeit. Wer aufsteigen will, der wird künftig noch länger unbezahlt im Büro oder an der Werkbank bleiben „Die Beschäftigten gehen heute mit Zeit großzügiger um als mit Geld“ sagt der Arbeitsmarktforscher Hartmut Seifert – allerdings ohne Gegenwert, denn die Arbeitszufriedenheit nimmt mit zunehmender Arbeitszeit stetig ab.
Hört doch auf die innere Uhr!
Wie viel Arbeit ist gut für den Menschen? Objektiv ist die Frage nicht zu klären. Ein philosophisches Angebot hat, lange vor der Erfindung der Stechuhr, der britische Humanist Thomas Morus gemacht:
„Drei Stunden vormittags,
worauf sie zur Mittagsmahlzeit gehen;
nach dem Essen zwei Stunden Ruhezeit,
dann wieder drei der Arbeit gewidmete,
worauf sie mit dem Abendmahl Feierabend machen“,
so beschrieb er 1516 den Kalender der Bewohner von Utopia. Ganz daneben kann er mit seinen Ideen nicht gelegen haben. Katholiken verehren Thomas Morus heute als Heiligen.
Mit ausgeschlafenen Grüßen
Euer Guido Rottkämper
29.01.2016 in people