Da läuft er wieder, der Spinner. Warum man Probleme lieber anGEHEN, statt ausSITZEN sollte

Da läuft er wieder, der Spinner.  Warum man Probleme lieber anGEHEN, statt ausSITZEN sollte

Was soll das eigentlich mit der Ergonomie? Wenn es uns so wichtig wäre, gesund zu sitzen, würden wir auch spritsparende Autos fahren, fettarme Chips essen, koffeinfreien Kaffee trinken und elektrische Zigaretten rauchen. Tun wir aber nicht. Wir kaufen, was schmeckt, gut aussieht und unseren Status hebt.

WENN wir uns konsequent für die Gesundheit entscheiden, machen wir in der Regel keine halben Sachen und handeln radikal – fahren Rad statt Auto, essen komplett fettfrei oder hören gleich auf zu rauchen. Tja, und WENN wir uns fürs richtige Denken entscheiden wollen, sollten wir die Stühle sowieso weglassen.

Schlendern ist Gehirnfutter

Täglich Punkt sieben Uhr abends startete Immanuel Kant seinen berühmten Spaziergang durch Königsberg. Während er in seinen mittleren Jahren gern in Begleitung von Freunden und Studenten möglichst entlegene Themen im Gehen disputierte, unternahm er seine Spaziergänge im Alter nur noch allein, um „seinen Gedanken besser nachgehen“ zu können. Kant zählt zu den bedeutendsten Philosophen des Abendlandes – ob er seine komplexen Gedankengebäude auch pfeiferauchend im Lehnsessel sitzend errichtet hätte?

Kant ist nicht der einzige Geher – auch Goethe, Nietzsche, Dickens oder Thoreau fanden im Rhythmus des Gehens ihre Worte. Aristoteles gründete während endloser Gänge durch die Athener Wandelhalle die philosophische Schule der Peripatetiker (“der Herumwandler”).

In Klöstern werden später eigene Räume zum kontemplativen Nachdenken errichtet. Wettergeschützt erlatschte man im Kreuzgang die geistigen Grundlagen unserer heutigen Kultur.

Heute sortieren Läufer ihre Gedanken beim Laufen, aus Kontemplation im Kreuzgang wurde Zen-Running. Laufen macht klüger, bewies der Neurologe Prof. Gerd Kempermann: Die Taktfrequenz der Schritte stabilisiert den Rhythmus des Gehirns, regt uns so zu einer intensiveren Denkleistung an und aktiviert die Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen (was bis in die 90er Jahre als völlig ausgeschlossen galt).

Festsitzender Husten

Wer wissen will, wie wichtig das Gehen für den Kopf ist, braucht sich aber weder mit Kant, noch mit Aristoteles oder Neurowissenschaften herum zu schlagen. Der Duden reicht – denn die Entwicklung von Sprache und Sprichwörtern enthüllt meist sehr präzise Zusammenhänge, derer wir uns nur bewusst werden müssen:

Wer innovativ ist, geht mit der Zeit oder ist fortschrittlich. Zum korrekten Ergebnis führt der Lösungsweg, die Pfiffigen denken um die Ecke. Und es heißt eben Gedankengang und nicht Gedankensitz.

Das Gegenteil von Innovation hingegen ist Stillstand. Probleme werden ausgesessen, die Stoischen verteidigen Ihren Standpunkt, schlechte Schüler bleiben sitzen und Husten setzt sich fest. Letzteres macht deutlich, dass das Sitzen scheinbar auch in höchstem Maße ungesund ist.

Stuhlverbrennung

In der Antike war das Sitzen nur etwas für Götter und Herrscher. Ein Sitz war ein Thron. Normale Menschen standen über 2000 Jahre.

Im 14. Jahrhundert dann gab es in Klöstern die ersten Sitzbänke in Form des Chorgestühls. Das Thronen eines Einzelnen wurde auf Viele ausgedehnt und aus „Vorstehern“ wurden „Vorsitzende“. Im Zuge der Reformation bekämpfte das Bürgertum das als elitär empfundene Sitzen der Mönche, plünderte die Kirchen und verbrannte das Chorgestühl.

Erst mit der Ausbreitung des bürgerlichen Humanismus im 16. und 17. Jahrhundert machte man Stühle der Allgemeinheit zugänglich und vor allem: man machte sie bequemer. Die chaise caquetoire, der „Plauderstuhl“, wurde geboren. Im ersten Bürogebäude der Welt, den Ende 1581 fertig gestellten Florentiner Uffizien, Namenspate des englischen „Office“, wurde Bürotätigkeit allerdings noch im Stehen gedacht – am Stehpult. Der Bürostuhl wurde erst um 1850 erfunden.

Wege zu kürzen ist fatal

Heute verbringen wir 36% unserer Lebenszeit im Büro sitzend und wundern uns, dass – nach Untersuchungen von Prof. Dr. Urs Fueglistaller von der Universität St. Gallen – mit 4% die wenigsten Ideen am Arbeitsplatz entstehen. Zum Vergleich: in der Natur wandernd werden 28% und damit siebenmal mehr Ideen generiert. Da scheint es uns als Architekten doch ziemlich bescheuert, dass der größte Wunsch unserer Kunden bei der Konzeption neuer Arbeitswelten kürzere Wege sind und wir uns den Mund fusselig reden müssen, um mal den ein oder anderen Besprechungsraum mit Stehtisch ausstatten zu dürfen.

Insbesondere die agile Softwareentwicklung nutzt seit Jahren den Denkbeschleuniger des Standupmeeting. Diese sind effektiver, kürzer, zielführender… kurz: es kommt mehr bei rum. Auch in Deutschlands bedeutendster Denkschmiede, der Design School des Hasso Plattner Instituts in Potsdam, sind die Stühle aus den Besprechungsräumen rausgeflogen – Innovation braucht keine Sitzgelegenheiten.

Ist nicht neu. Gar nicht neu. Wußte schon Diogenes von Sinope (412 – 323 vor Christus), der zu sagen pflegte: Solvitur ambulando – es wird im Gehen gelöst.

09.07.2015 in

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